HARMONIA MUNDI
1 LP - HM 30 514 K - (p) 1970
1 CD - 82876 70040 2 - (c) 2005

MUSIK IN VERSAILLES







Marin MARAIS (1656-1728) La sonnerie de Sainte Geneviève du Mont à Paris (1723) - für Violine, Viola da gamba und Basso continuo
8' 11" A1
Jean Henri d'ANGLEBERT (1635-1691) Prélude in d für Cembalo - aus den Pièces de clavecin, 1689
5' 30" A2
Marin MARAIS Tombeau de Mr. de Sainte-Colombe - für Viola da gamba und Basso continuo *

7' 37"
A3
Antoine FORQUERAY (1671-1745) Suite V c-moll - für Viola da gamba und Basso continuo (aus den Pièces de Viole) *

24' 45"

- La Rameau - Majestueusement
4' 22"
B1

- La Guignon - Vivement et detaché
3' 17"
B2

- La Leon, Sarabande - Tendrement 3' 26"
B3

- La Boisson - Vivement, les pincés bien sostenûs
3' 06"
B4

- La Montigni - Galament sans lenteur
2' 57"
B5

- La Silva - Très tendrement
4' 03"
B6

- Jupiter - Modérément 3' 54"
B7





 
Sigiswald Kuijken, Violine, Viola da gamba (Violine der Maggini-Schule, 17. Jh.; Viola da gamba von Pierre Prévost, Paris 1634*)
Wieland Kuijken, Viola da gamba (unbekannten Meisters, Süddeutschland 18, Jh.)
Gustav Leonhardt, Cembalo (Martin Skowroneck 1962, nach Kopie von J. D. Dulcken 1745)

 






Luogo e data di registrazione
Schloßkirche des Fuggerschlosses Kirchheim, Schwaben (Germany) - giugno 1970


Registrazione: live / studio
studio

Recording Supervision
Dr. Alfred Krings | Thomas Gallia


Engineer
-


Prima Edizione LP
Harmonia Mundi | HM 30 514 K | 1 LP - durata 46' 33" | (p) 1970


Edizione CD
Deutsche Harmonia Mundi | LC 0761 | 82876 70040 2 | 1 CD - durata 46' 33" | (c) 2005 | ADD


Cover Art

Versailles


Note
-














Beide wurden in Paris geboren, beide wuchsen in der musikalischen Tradition des Hofes von Versailles auf, jene großen Virtuosen der Viola da gamba: Marin Marais und Antoine Forqueray.
Marais hatte Lully zum Lehrer, den Erneuerer des Ballet de Cour und Begründer einer französischen Nationaloper. Sein Lieblingsinstrument hatte er jedoch bei dem berühmten Monsieur de Sainte-Colombe kennengelernt, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts als höchste Autorität für dieses Instrument galt. Sainte-Colombe, von dem man weder Vornamen noch Lebensdaten, noch Werke kennt, die von Bearbeitern bis heute eifersüchtig gehütet werden, hatte der Gambe eine siebente Saite hinzugefügt und wohl das Spiel dieses Instruments wesentlich bereichert. Diesem Mr. de Sainte-Colombe widmete Marais auch jenes großartige Tombeau, das alle Feinheit der klassischen französischen Kammerkunst eröffnet und in seiner harmonisch-kühnen und ausdrucksstarken Anlage über den Konversationston Weit hinausgeht, wie man ihn in den Kreisen der vornehmen Gesellschaft so liebte. Unter den Augen Lullys noch wurde Marais "batteur de mesure" und hatte das Orchester der Académie Royale de Musique zu dirigieren, das Lully gegründet hatte und an der Marais seit der Gründung als Sologambist wirkte. Mit 23 Jahren schon war er "Ordinaire de la Chambre du Roy pour la viole" geworden und blieb Hofgambist bei Ludwig XIV. und Ludwig XV.
Konkurrent des bedeutenden Virtuosen und Komponisten war der sechzehn Jahre jüngere Antoine Forqueray. Als Wunderkind hatte er mit fünf Jahren zum erstenmal bei Hof dem König vorgespielt. Ludwig XIV. nahm ihn unter seine Pagen auf. Mit siebzehn wurde er "Musiker der königlichen Kammer". In der Gesellschaft hatte der junge Virtuose großen Erfolg: zu seinen Schülern zählte der Herzog von Orléans, nach dem Tode Ludwigs XIV. Regent von Frankreich. Der vornehme Gönner verschaffte seinem Musiklehrer nicht nur den Adelstitel, er schenkte ihm 1720 auch hunderttausend Francs.
Die musikalische Öffentlichkeit bewunderte die beiden großen Rivalen. "Ou peut dire que personne n'e surpassé Marais: un seul homme l'a egalé: c'est le fameux Forqueray". So schreibt 1752 der jüngere Daquin in seinen Briefen über die Künste unter Ludwig XV. Forqueray habe seine Neigung zur oberitalienischen Violinschule in Bologna und Venedig auch in seinen Kompositionen erkennen lassen, da er alles, was die Italiener bis zu Corelli hin auf der Violine vorführen, auf der Gambe nachzuahmen suchte. "Il tenta de faire sur la viole tout ce qu'ils fasaient sur leur violon et il y parvint".
Trotz dieser italienischen Neigung stehen die Werke von Forqueray in der französischen Tradition. Das, was von ihnen erhalten ist, steht im wesentlichen in der Ausgabe, die von seinem Sohn Jean-Baptiste-Antoine veröffentlicht wurde unter dem Titel: "Pièces de viole avec la Basse continue composées par Mr. Forqueray le Père".
Der hohe Schwierigkeitsgrad der Suiten, bei denen vor allem die langsamen Sätze einen Einfluß Corellis nicht verleugnen, veranlaßte seinen Sohn, die Ausgabe der Werke seines Vaters mit genauen Fingersätzen zu versehen. Doch schon die Zeitgenossen meinten, daß nur die beiden Forquerays selbst diese Werke spielen könnten. So ist es nicht verwunderlich, daß sie mit dem Aussterben des Instruments auch vergessen wurden. "c'est d'avoir rendu les pièces si difficiles qu'il n'y a que lui et son fils qui puissent les exécuter avec grâce"
Das überlieferte Oeuvre von Marais ist bei weitem umfangreicher als das seines Konkurrenten. Fünf Bücher mit "Pièces de viole" veröffentlichte er zwischen 1686 und 1725. In der Widmung des ersten nennt er mit großem Respekt Lully als seinen Lehrer.
Das zweite von 1701 enthält das "Tombeau" auf seinen Gambenlehrer Mr. de Sainte-Colombe. Außer diesen Büchern für sein Lieblingsinstrument veröffentlichte er eine Ausgabe von "Pièces en trio pour les flûtes, violon e dessus de viole" im Jahre 1692 und eine gewichtige Sammlung unter dem Titel "La gamme et autres morceaux de simphonie pour le violon, la viole et le clavecin" im Jahre 1723. Der letztgenannten Sammlung ist jene großartige "Sonnerie de Sainte Geneviève du Mont à Paris" entnommen, die eine geniale Programmusik ist, die doch mit dem ostinaten Baß ein Beispiel für eine fast mathematisch aufgebaute Struktur gibt.
Unsere Aufnahme mit Werken aus dem Bereich des Hofes von Versailles wird ergänzt durch eines jener Prèludes sans mesure, die im 17. Jahrhundert beliebt waren und die Nähe der improvisatorisch wirkenden, im Rhythmus sehr freien Lautenmusik zeigten.
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Die hochverfeinerte Musik am Hof von Versailles kann nur von Interpreten wiedergegeben werden, die alle Manierismen und Extravaganzen dieser Kunst darstellen können. Seit längeren Jahren schon hat der Amsterdamer Cembalist Gustav Leonhardt Aufsehen erregt durch die Kompromißlosigkeit, rnit der er die Werke des 17. Jahrhunderts getreu der Überlieferung der Komponisten und Theoretiker dieser Zeit interpretiert. Sein Spiel stand in scharfem Kontrast zur Meinung vieler Kritiker, die einen gleichmäßig sich reihenden Rhythmus in der Barockmusik als höchstes Ideal empfanden. Gustav Leonhardt entdeckte neu, daß sowohl die Werke des Italieners Frescobaldi wie auch die französische Musik der Louis Couperin, Jean Henri d'Anglebert und ihrer Nachfolger vom freien Affekt lebten und daß eine gewisse Diskontinuität, die darzustellen allerdings einen großen Musiker verlangt, zum erregenden Ausdruck dieser frühbarocken Musik gehört.
Was Gustav Leonhardt seit Jahren in seineın Spiel demonstriert und als gesuchter Lehrer seinen Schülern erläutert, das haben zwei belgische Musiker, die Brüder Wieland und Sigiswald Kuijken, in den letzten Jahren für die Streichinstrumente entdeckt. Die beiden flämischen Musiker absolvierten das Brüsseler Konservatorium mit Diplomen und Preisen. Die Kenntnis der alten Musik erwarben sie aber an den originalen Quellen. Beide sind im Alarius-Ensemble für alte Musik und in dem hervorragenden Brüsseler Ensemble "Musiques Nouvelles" tätig.
Daß alte und neueste Musik sich ergänzen, ist für beide Musiker nicht erstaunlich, da die besten der Avantgardisten unserer Zeit, ebenso wie es die großen Meister des 17. Jahrhunderts getan haben, einen Reichtum instrumentaler Farben entdeckt haben, die sie über die Jahrhunderte hinweg musikalische Annäherung finden lassen.
Daß ein Gambist den alten Quellen konsequent folgen muß, ist vielleicht nicht einmal so neuartig wie die Konsequenz, mit der Sigiswald Kuijken die Barockvioline spielt, die er in unserer Aufnahme getreu der alten Spielweise nicht mehr mit dem Kinn festhält, sondern nur an die Schulter anlegt, was dem Geigenton einen völlig neuen Klang gibt und den Spieler zu einem sehr leichten und lockeren Spiel zwingt.
Die für den modernen Hörer ungewöhnlichen Seufzer, die langsamen und schnellen Ausführungen der Triller, die Arpeggien und plötzlichen dynamischen Schweller sind in den Werken von Marais und Forqueray mit einer Sorgfalt bezeichnet, wie man sie sonst nirgendwo in zeitgenössischen Partituren findet. Sie können jedoch als vorbildlich für die französische Musik des 17. und 18. Jahrhunderts angenommen werden. Erst durch die konsequente Ausführung dieser alten Musik eröffnen sich der ganze Reichtum und die Vornehmheit der französischen Kunst in Versailles.
Alfred Krings